Ja ich weiß, dass es Wunder gibt und ich glaube an einen Gott, der Wunder tun kann. Nur war das bisher eher mehr theoretisches Wissen und nicht Erfahrung -bis das Ergebnis des MRT kam. Der Arzt fing das Gespräch mit folgenden Worten an: "Ich hatte mich auf ein schweres Gespräch mit Ihnen vorbereitet, ein sehr trauriges Gespräch". So ähnlich haben wir uns auch auf das Gespräch vorbereitet. Judith und ich haben uns im Vorfeld lange (übers Telefon) darüber unterhalten, wie weit wir bereit sind zu gehen. Hier in Tübingen an einer Uniklinik verschwimmen die Grenzen, was Leben ist. Es ist medizinisch so viel möglich. Wir waren uns einig, dass es eine Grenze gibt, was auch leben für unseren Loris bedeutet.
Dann die Auswertung: negativ. Nur ein Wort. Erst langsam dringt dieses Wort in mein Bewusstsein und es dauert noch länger bis es in meinem Herz ankommt. Loris Stammhirn stirbt nicht langsam ab. Es gibt keine Veränderungen zum ersten MRT, keine Auffälligkeiten. Doch gleich die Frage wie, warum, weshalb. Aber im Grunde kann ich nur sagen: es ist ein Wunder. Meine Befürchtung, dass Loris bei seinem Herzstillstand viel zu wenig Sauerstoff bekommen hat, hat sich als falsch herausgestellt. Dieses "negativ" von MRT und EEG bedeutet, es gibt Hoffnung, auch wenn unklar ist, woher seine Zustände mit dem starken Abfall der Herzfrequenz kommen. Abends nach dem Gespräch bin ich total am Ende. Wie soll es nur weitergehen, wir können nicht von der Intensivstation runter, zu unstabil ist Loris Zustand. Doch wir können ja auch nicht ewig hier bleiben?
Loris bei mir auf dem Schoss, hier baue ich Loris immer ein Art Matratze. So kann er mir ganz nahe sein und sich doch einigermaßen Bewegen. Ich binde mir dann immer die Beine zusammen, weil ich sonst meine Knie nach einer Stunde nicht mehr zusammenhalten kann.
Einen Versuch starten die Ärzte noch. Loris bekommt Kortison. Das wird versucht, wenn alles andere nichts geholfen hat. Und nach drei Tagen ist klar, dass das auch nicht die Lösung ist. So gehen die Tage dahin. Es ist Stillstand, Flaute, es bewegt sich nichts. Loris hat weiterhin starke Abfälle. Und so langsam aber sicher macht sich Verzweiflung in meinem Herz breit. Mal wieder sind es die Nachmittage und Abende, die mir zusetzen. Morgens ist immer was los, aber wenn es dunkel und ruhig wird, dann machen sich Sorgen breit. Ganz existenzielle Sorgen. Unsere anderen 4 Kinder machen es ganz gut mit, aber ich merke, bei allen steigt das Schmusebedürfnis. Sie wollen nicht alleine schlafen und Lino spricht aus, was alle wollen: Ich will, dass Mama kommt. Und wenn ich ihm dann sage, dass Mama morgen kommt, findet er das gleich toll, aber Papa darf nicht gehen. Mama und Papa sollen da sein. Das bricht einem das Herz. Dieses Gefühl, dass einem das Leben entgleitet, kann ich nicht in Worte fassen. Dieses Gefühl, immer zu wenig zu machen, dass alle zu kurz kommen und es mich selbst zerreißt.
Immer noch füllen so viele Menschen diese Lücken. Da wird mit Lotta Vokabeln gelernt, Lasse kann ich zur Nachbarin schicken, weil ich beim besten Willen sein Mathe Arbeitsblatt nicht verstehe. Zum Glück macht Opa oft Hausaufgaben mir Lasse, ich verzweifle oft an diesen Arbeitsblättern. Es gibt Essen und Lino wird von einer Freundin vom Kindi abgeholt. Und was Oma und Opa übernehmen und uns abnehmen, das lässt sich nicht in Worte fassen.
Dann bekomme ich wieder festen Boden unter den Füßen und ich kann die Angst niederringen, so dass sie mich nicht auffressen kann. Und wenn es doch zu schlimm wird, nehme ich meine Kopfhörer und höre das Lied von Freiwild "Wie ein schützender Engel" und das wird dann zu meinem stillen Gebet.
Es ist ein Dank an Gott und eine Bitte, nicht nur für Loris, für Judith und meine Kinder, sondern auch für mich, der immer stark sein will. Doch hier abends mit Loris auf dem Arm, wie soll ich das schaffen.
Da Freiwild hier nur von einem "unbestimmten jemand" singt, habe ich das "DU und das DEINE" einfach durch Gott ersetze bzw. fülle es für mich damit.
Durch den Wind, durch den Regen Durch die Lichter der Nacht Ich fühle, dass du da bist Ich fühle deine Macht Sahst mich weinen, mich lachen Mich kommen und gehen Folg den Spuren im Sand Und so folg ich deinem Leben
Denn du bist mein Mein Dach im Sturm und im Regen Wie ein schützender Engel Über all meinen Wegen Du bist Du bist bei mir Und du bist alles und noch mehr
Wer hätte gedacht das Judith und einmal mehr als 8 Wochen nicht zusammen leben können. Alle 4 Tage sehen wir uns ca. eine halbe Stunde. Es ist immer wieder schön zu sehen, wie wir uns ergänzen, vergeben und das Leben zusammen meistern. Ich weiß nun, es gibt nichts was wir zusammen nicht schaffen könnten, es gibt nichts was uns trennen kann. Sich auf jemand so verlassen zu können ist mehr als sich man wünschen kann.
Als klar ist, dass das Kortison auch nicht den gewünschten Erfolg bringt, ist erst einmal große Ratlosigkeit da. Dann eine neue Idee, Loris soll ins Schlaflabor. Dort wird nochmal EEG gemacht, aber mit ca. 300 Elektroden und Messgeräten mehr. Judith und ich sind uns einig, dass wir uns keine großartigen Erkenntnisse davon versprechen. Das sagen die Ärzte auch. Die Wahrscheinlichkeit, dass etwas dabei raus kommt ist nicht hoch, aber versuchen müssen wir es. Das ist aber gar nicht so einfach wie es sich anhört. Loris muss auf die Neo (eine andere Klink in Tübingen) verlegt werden und einer von uns muss mit, weil dort eine Pflegerin für 4 Kinder zuständig ist und die Loris nicht kennen. Mittlerweile ist es so, dass Judith und ich auf Loris Anfälle gut reagieren können. Kopf in den Nacken überstrecken, Kiefer nach vorne ziehen und an Bauch und Brust stimulieren. So geht es, so können wir Loris bei Abfällen ganz gut helfen. Deshalb sollen wir begleitend mit ins Schlaflabor.
Ich bin mit auf Station und es fühlt sich komisch an, ohne Pflegerin und Arzt im Zimmer mit Loris zu sein. Für mich purer Stress. Ich sauge Loris regelmäßig den Speichel ab, bei einem Anfall helfe ich ihm. Die Pfegerinnen sind aber super und wissen schnell mit Loris umzugehen. Um 23 Uhr dann schlafe ich ein und falle fast vom Stuhl. Die Pflegerin in der Nachtschicht hat es jetzt mit Loris super im Griff, hat auch mehr Zeit und ich gehe. Leider fährt kein Bus mehr, das Taxi ist mir zu teuer. Also laufe ich eine Stunde den Berg hoch zum Elternhaus. Totale Erschöpfung, das habe ich noch nicht erlebt. Ohne Zähneputzen falle ich mit Kleidern ins Bett und kann doch nicht schlafen. Ich spüre, es geht auch bei mir um Viel um viel mehr, ich war schon oft müde, oder vom Training erschöpft aber das hier geht tiefer. Die Gedanken kreisen. Dann mach ich mir ein Hörspiel an und so langsam folgt mein Kopf meinem Körper in den Schlaf.
Loris im Schlaflabor, mit 8 Elektroden am Kopf, Bauch und Brustgurt, Blutdruck, Sättigung und Herzfrequenz. Immer dabei sein Igel.....
Am nächsten Tag ist über Mittag die Auswertung der Ärzte des Schlaflabors. Als ich dann nachmittags Loris sehe, muss ich mich am Bett festhalten, um nicht umzufallen. Ich hielt es in Filmen immer für einen Witz, wenn jemand sagt "setzten Sie sich", bevor eine schlechte Nachricht überbracht wird. Nun merke ich zum ersten mal was es heißt "weich Knie" zu haben, ein elendes Gefühl, ich drohe umzukippen, mich einfach auf den Boden fallen zu lassen und nie wieder aufzustehen. Ich sehe Loris wie er da liegt und eine Atemmaske in der Nase hat. Fast zwei Wochen hat die Entwöhnung davon gedauert und wir waren so froh, endlich diese Schläuche weg zu haben. Warum jetzt wieder dieser Rückschritt? Ich kralle meine Hand in das Laken auf Loris Bett und falle, weine, möchte schreien. Immer wenn ich denke, das war jetzt der tiefste Punkt, geht es noch ein Stück tiefer. Erst als meine Hand schmerzt, weil ich sie so fest in das Lacken drücke, habe ich die Kraft und den Mut bei den Pflegern nachzufragen. Schnell kommt ein Arzt und klärt mich auf. Das Schlaflabor hat etwas ganz deutlich gezeigt, oder besser gesagt, bestätigt. Loris Abfälle haben zwei Gründe: Anfälle vom Gehirn, dann fehlt der Atemantrieb und Abfälle durch Verlegung der Atemwege durch die Zunge oder schlaffer Muskulatur im Rachen.
Die Ärzte vom Schlaflabor sagen deutlich, gegen die schweren Abfälle hilft die Atemmaske in der Nase, über die mit starkem Druck Sauerstoff gegeben wird. Aber so rational kann ich das grad nicht sehen. Ich sehe nur mein Kind mit Schlauch in der Nase, der ihn so an seinen Bewegungen stört. Außerdem bekommt Loris noch ein anderes Medikament.
Die Pflegekräfte sind schon echt toll. Hier haben sie Loris eine Hängematte gebaut. Das schaukeln hat Loris wirklich gefallen.
Am nächsten Tag kommt der Pfleger Uwe. Er sieht, was mit mir los ist, kommt zu mir und redet mit mir. Das ist genau das, was ich gebraucht habe. Er macht mir Mut, gibt mir etwas Zuversicht und Hoffnung. Sagt wie toll wir das alles machen und stolz Loris sein kann, so tolle Eltern zu haben. So kann ich in das nächste Gespräch mit etwas emotionalem Abstand gehen und das ist gut. Das Gespräch mit dem Arzt ist dann auch gut. Er weiß auch, dass sich kein Kind mit Schlauch in der Nase gut entwickeln kann, aber auch, dass sich kein Kind mit solchen Anfällen gut entwickeln kann. Deshalb nun der Versuch mit Schlauch und hohem Druck. Wir wollen einfach mal eine stabile Situation.
Mittlerweile ist uns klar, dass wir mit Loris irgendwann nach Hause gehen und es immer Anfälle geben kann und geben wird, auf die wir nicht reagieren können, so dass es für Loris tödlich sein könnte. Wir wissen mehr denn je, Loris Leben liegt nicht in unserer Hand. Deshalb haben wir uns entschieden, Loris taufen zu lassen. Nicht dass die Taufe etwas an Gottes Liebe zu Loris ändert. Die Taufe soll auch kein Wundermittel der Heilung sein. Es geht darum, klar zu machen, wem wir vertrauen und wem wir dieses Kind in die Hände legen.
Zwei gute Freunde sind bereit, Paten zu werden. Das ist für uns nach wie vor der Hammer. Wieder sind es andere, die eine Lücke füllen, die bereit sind für Loris einzustehen, ihn zu begleiten. Als Pfarrer habe ich Johannes gefragt, einen Menschen und Bruder, den ich sehr schätze, der mir viel gegeben hat und dem ich vertraue, mit einer freundlichen und fröhlichen Seele. So konnten wir Loris hier auf der Intensivstation taufen und ihn und uns in Gottes Hände legen. Johannes hat tolle Worte für uns gehabt, ich bin so dankbar, dass er hier sein konnte. Es war auch schön, dass alle unsere Kinder dabei sein konnten, was bis kurz vorher nicht klar war.
Loris seine Taufkerze mit Bibelvers.
Nach ein paar Tagen mit der Atemmaske zeigt sich, dass es tatsächlich hilft. Loris hat keine stimulationspflichtigen Abfälle mehr. Er kommt nach kurzen Abfällen selbst wieder hoch/raus. Leider gibt es dann schon wieder einen Rückschlag: Loris zieht sich in der Nacht selbst seine Sonde. Über diese Sonde wird er ernährt. Jetzt muss er wieder Infusionen bekommen. Nach zwei Tagen bekommen wir einen OP-Termin, um die Sonde neu legen zu lassen. Das heißt für Loris wieder Sedierung und Intubation und diese OP ist auch nicht ganz ungefährlich. Das erste Mal hat er mehrere Tage gebraucht, sich davon zu erholen. Es scheint nicht enden zu wollen. Aber die OP geht gut und schnell. Die Ärzte können die Sonde beim ersten Versuch richtig platzieren und Loris erholt sich schnell.
Nach weiteren drei Tagen, an denen Loris Zustand echt stabil war, ist es morgen so weit: Loris soll auf die neurologische Normalstation verlegt werden. Für uns ist es ein Testlauf, wie wir es ohne die intensive Betreuung schaffen. Das hört sich wenig an aber mehrere Tage in einem stabilen Zustand, das klingt so unglaublich, dass es schwer, es hier zu schreiben. Ich denke immer wieder nur, Loris ist so klein und jung aber was er schon alles aushalten musste und muss und jetzt, stabil, ein Wunder, ein Geschenk, die ersten Tränen vor Freude.
Ich kann das noch gar nicht fassen. Klar hat Loris extrem viele Baustellen - aber wir dürfen nach fast zwei Monaten runter von der Intensivstation.
Hoffentlich dürfen wir Loris bald wieder so sehen. Wir hoffen dass Loris in den Wachphasen nur noch sine Sonde hat. So kann Loris viel besser seinen Scharm zeigen :-)....
Das erste Mal seit bald zwei Monaten gönne ich mir einen Blick in die Zukunft und bin bereit zu sagen, es könnte doch etwas werden. Wir haben hier auf der Station miterlebt wie zwei Kinder gestorben sind und lange war ich mir sicher, Loris wird es genauso gehen. Doch nun blicke ich mit etwas, aber nur ganz wenig, Zuversicht auf die nächsten Tage. Meine Bitte ist nach wie vor: Gott, sei du der schützende Engel über meiner Familie!